Nie wieder Deutschland

Graffito

„Nie wieder Deutschland!“ ist ein antideutscher Slogan. Er war das politische Motto der Radikalen Linken (RL) und ihrer bundesweiten Demonstration am 12. Mai 1990. Diese richtete sich gegen die sich abzeichnende Deutsche Wiedervereinigung und deren befürchtete Folgen, gegen deutschen Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Faschismus.

Entstehung

Das Bündnis „Radikale Linke“ entstand aus einem Treffen von Vertretern der Zeitschrift konkret um Hermann Gremliza, Ökosozialisten und Kommunistischer Bund in Hamburg im April 1989. Zum Folgetreffen im Juli 1989 verfassten die Ökosozialisten Rainer Trampert und Thomas Ebermann ein Grundlagenpapier, das ein Vorbereitungskreis bis Oktober 1989 überarbeitete. Sie planten für Mai 1990 eine Großdemonstration und für Pfingsten (1. bis 3. Juni) 1990 einen Kongress gegen die Wiedervereinigung. Die Initiatoren reagierten damit auf das damalige Wiedererstarken des deutschen Nationalismus, Neonazismus und Geschichtsrevisionismus. Sie warnten vor einem „Vierten Reich“ und einem erneuten deutschen Imperialismus oder Weltmacht-Streben.[1]

Die RL entstand im Trennungsprozess der Ökosozialisten und der Radikalökologen von der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Erstere traten im Frühjahr 1990, letztere ein Jahr später aus dieser Partei aus. Ein weiterer Anstoß war der Protest gegen die Haftbedingungen von ehemaligen RAF-Mitgliedern, von denen einige 1989 dagegen in einen Hungerstreik getreten waren. Bis 21. Januar 1990 legten verschiedene Initiatoren Texte für den geplanten Kongress vor, darunter Winfried Wolf, Angelika Beer, Theresia Degener, Georg Fülberth und Jens Scheer. Die Vorbereitungsgruppe verfasste den Demonstrationsaufruf unter dem Titel „Nie wieder Deutschland!“[2] Bis Januar 1990 trugen mehr als 100 linksgerichtete Gruppen, Parteien und Organisationen das Bündnis und seinen Demonstrationsaufruf mit.[3]

Die Demonstrationsparole knüpfte an Parolen des deutschen Antifaschismus ab 1945 wie „Nie wieder Faschismus“ und „Nie wieder Krieg“ an. Sie stand seit Oktober 1989 fest und folgte einer langen Tradition der Kritik am deutschen Kapitalismus, Nationalismus und Militarismus. So hatte Karl Marx 1844 in seinem Werk Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie aufgerufen: „Krieg den deutschen Zuständen!“ Im selben Jahr dichtete Heinrich Heine in „Die schlesischen Weber“: „Deutschland, wir weben dein Leichentuch“ und „Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande“. Die deutsche 68er-Bewegung aktualisierte diese Tradition und wurde darum 1969 von politischen Gegnern erstmals als „anti-deutsch“ bezeichnet. 1981 veröffentlichte die Hamburger Punk-Band Slime das Lied „Deutschland muss sterben“ mit den Zeilen:

„Wo Faschisten und Multis das Land regiern, wo Leben und Umwelt keinen interessieren, wo alle Menschen ihr Recht verliern, da kann eigentlich nur noch eins passieren: Deutschland muss sterben, damit wir leben können…“

Die Zeile kehrte die Inschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ auf dem Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtor um, richtete sich also frontal gegen die deutschnationale Opferideologie, mit der beide Weltkriege gerechtfertigt worden waren. Das Lied wurde auf Demonstrationen von Autonomen, Anarchisten und Antifaschisten in Hamburg, Berlin und anderswo oft gespielt. Berliner Gerichte verboten zeitweise das öffentliche Abspielen des Liedes, bis das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ihre Urteile im November 2000 als Verstoß gegen die Kunstfreiheit aufhob.[4] Dabei erinnerte das BVerfG auch an Heinrich Heines Deutschlandkritik.[5]

Die RL führte ihre Demonstrationsparole auf die Schauspielerin Marlene Dietrich zurück. Sie soll 1944/1945 bei ihrer Tour für US-amerikanische Truppen in Europa auf eine Journalistenfrage, ob sie nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehren werde, geantwortet haben: „Deutschland? Nie wieder!“ Als die Organisatoren dieses Zitat für die geplante Frankfurter Demonstration verwenden wollten, klagte Dietrich gegen die Mitorganisatorin Jutta Ditfurth, zog die Klage jedoch kurz darauf zurück.[6]

Demonstrationen

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ Demonstration Berlin 3. November 1990
Berlin 3. November 1990

Die erste Nie-wieder-Deutschland-Demonstration des RL-Bündnisses fand am 12. Mai 1990 in Frankfurt am Main mit 20.000 Teilnehmern[7][8], die letzte am 3. November 1990 in Berlin statt.[9] Die Frankfurter Demonstration war die größte in der Bundesrepublik gegen die bevorstehende Wiedervereinigung.[10]

Die Berliner Demonstration am 3. November 1990 trug das Motto „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ und zitierte damit das Gedicht Todesfuge des Holocaustüberlebenden Paul Celan. Ursprünglich war geplant, diese Demonstration unter dem Motto „Nie wieder Deutschland“ in Leipzig stattfinden zu lassen. Da die Organisatoren jedoch nicht mit der Leipziger Montagsdemonstration konkurrieren wollten, wurde die Demonstration mit dem neuen Motto nach Berlin verlegt. An ihr nahmen 8.000 Menschen teil. Vor der Berliner Demonstration organisierten autonome Gruppen in Berlin gänzlich unabhängig vom Bündnis „Radikale Linke“ vom 30. September 1990 bis zum 3. Oktober 1990 unter dem Motto „Halt’s Maul, Deutschland. Es reicht“. Aktionstage für den Wiederzusammenbruch mit einer bundesweiten Großdemonstration am 3. Oktober, an der ca. 20.000 Menschen teilnahmen.[11][9] Am 12. November 1990, also nur neun Tage nach der Berliner Demonstration, kam es im Kontext von Häuserräumungen zu Auseinandersetzungen um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain und am 14. November zur Räumung der Mainzer Straße.

Demonstration am 3. Oktober 1990

Kongress

Am Pfingstkongreß 1990 in Köln der RL unter dem Motto Nie wieder Deutschland nahmen 1.500 Menschen teil.[8]

Folgen

Verschiedene linke Gruppen kritisierten die Parole „Nie wieder Deutschland“ schon ab 1990. Die Marxistische Streit- und Zeitschrift fand den alleinigen Verweis auf die „deutsche Vergangenheit“ und die Gefahr eines „Großdeutschland“ wenig überzeugend: „Fast möchte man diese Kritiker fragen[,] ob sie ohne die allseits verdammte ‚deutsche Vergangenheit‘ als Berufungsinstanz überhaupt noch eine Kritik an der Wiedervereinigung wüßten. […] Demgegenüber vor einer ‚Gefahr‘ zu warnen, die von Großdeutschland ausgehen ‚könnte‘, ist – gelinde gesagt – ausgesprochen matt. Noch dazu, wenn diese ‚Gefahr‘ aus einem ‚Größen- und Eroberungswahn‘ und einer von ihm ausgelösten ominösen ‚Dynamik‘ stammen soll.“[12]

Joachim Bruhn sah 1991 einen Widerspruch der Parole zum sonst von vielen Linken geforderten Selbstbestimmungsrecht der Völker: „Denn was waren die Ereignisse des Oktober 1989 anderes als ein leibhaftiger Volksaufstand, eine spontane Erhebung und veritable Revolution für ganz genau das ‚Recht auf nationale Selbstbestimmung‘, das Deutschlands Linke jahrzehntelang, wenn auch für die Basken und die Palästinenser, eingeklagt hatte? Und was bewiesen die Leipziger Montagsdemonstrationen anderes als die Existenz jenes geheimnisvollen Zusammenhanges von ‚nationaler und sozialer Befreiung‘, den Deutschlands Linke immer nur für Irland und die Westsahara gelten lassen wollte?“[13]

Infolge des Golfkriegs 1991 spaltete sich die RL im Streit um den Israel-Palästina-Konflikt und um linken Antisemitismus unter anderem in Antideutsche und „Antiimperialisten“.

Der ehemalige Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Peter Gingold lehnte die Parole nach der Fußballweltmeisterschaft 2006, durch die deutscher Patriotismus normalisiert wurde, als realitätsverweigernd und unproduktiv ab: „Wir dürfen uns jetzt nicht in unserer Reaktion in die Ecke der ‚Antideutschen‘ drängen lassen. Diese Losung ‚Nie wieder Deutschland‘, das kann nicht die unsere sein. Deutschland ist eine Realität. Wir gehören zu diesem Land, wir haben in ihm Verantwortung zu tragen.“ Er habe jedoch auch „für die jungen Leute viel Verständnis […], wenn sie damit meinen, nie wieder ein Deutschland, das soviel Schrecken über die Welt brachte, zuzulassen.“[14]

Literatur

  • Jan Gerber: Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des „realen Sozialismus“. Ca Ira, Freiburg 2010, ISBN 978-3-86259-100-8 (Rezension).
  • Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: „Deutschland muss …“. In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast, Münster 2004, ISBN 3-89771-432-9, S. 65–86.
  • Radikale Linke: „Deutschland? Nie wieder!“ Kongreß der Radikalen Linken: Reden und Diskussionsbeiträge zum Kongress an Pfingsten 1990 und auf der Demo Nie wieder Deutschland am 12. 5. 1990 in Frankfurt am Main. ISP Verlag, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-88332-179-6.
  • Die Radikale Linke. Reader zum Kongreß vom 1. - 3. Juni 1990 in Köln. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1990, ISBN 3-922144-94-2.
  • Gaston Kirsche: 25 Jahre „Nie wieder Deutschland!“ HaGalil, 1. Juni 2015
  • Gaston Kirsche: 25 Jahre Antideutschland: Wie alles anfing. jungleworld, 28. Mai 2015
  • Analyse & Kritik: Kalt erwischt. Die deutsche Einheit, die radikale Linke und das Ende des Kommunistischen Bundes. ak Nr. 443, 26. Oktober 2000
  • Andreas Fanizadeh: „Was soll denn das dumme Zeug hier?“ „Nie wieder Deutschland“ und die politische Öffentlichkeit. In: Redaktion diskus (Hrsg.): Die freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland. ID Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-89408-019-1 (PDF)
  • autonome L.U.P.U.S. Gruppe R/M: Doitsch-Stunde. Originalfassung mit autonomen Untertiteln. In: Ingrid Strobl, Klaus Viehmann und GenossInnen autonome l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. ID Verlag, 1991, ISBN 3-89408-029-9
  • Oliver Tolmein (1991): Nie wieder deutsche Linke? Abschied von einem Zerfallsprodukt. Konkret 10 / 1991, S. 35 (PDF).

Einzelnachweise

  1. Maren Psyk: Vorwort; Winfried Wolf: Schweigen, weil das Vierte Reich ohnehin kommt? In: Die Radikale Linke, Hamburg 1990, S. 7–10
  2. Die Radikale Linke, Hamburg 1990, S. 5–6 (Inhaltsverzeichnis) und S. 193–198 (Demonstrationsaufruf)
  3. Hildegard Deininger, Maren Psyk, Winfried Wolf: Vorwort, in: Kongreß der Radikalen Linken, Frankfurt am Main 1990, S. 9–11
  4. Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: „Deutschland muss …“. In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“, Münster 2004, S. 65–67
  5. Urteil: »Deutschland muss sterben« erlaubt. ND, 24. November 2000
  6. Jan Gerber: Nie wieder Deutschland? Freiburg 2010, S. 29
  7. Peter Bienwald: antideutschland liegt nicht auf den bahamas! In: Prager Frühling, Oktober 2009
  8. a b Jörn Schulz: Etwas Besseres als die Nation. In: Phase 2 Nr. 38
  9. a b Autonome L.U.P.U.S. Gruppe R/M: Doitsch-Stunde. Originalfassung mit autonomen Untertiteln. ID Verlag. In: Ingrid Strobl, Klaus Viehmann und GenossInnen autonome l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. Edition ID-Archiv 1991.
  10. Christof Meueler: Die letzte Vorstellung. In: junge Welt, 12.05.2015. Abgerufen am 9. Juni 2024. 
  11. Feiertage Deutschland, halt’s Maul. In: Der Spiegel, 1. Oktober 1990
  12. Einwände gegen den Aufruf zur Demonstration: „Nie wieder Deutschland“. Die Eroberung der DDR durch die BRD – Kein deutscher Wahn, sondern erfolgreicher Imperialismus. In: Marxistische Streit- und Zeitschrift 1990, Ausgabe 3
  13. Zitiert von Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch: Die westdeutsche Linke und das Ende des „real existierenden Sozialismus“. De Gruyter / Oldenbourg, Berlin 2019, ISBN 3-11-052914-9, S. 141; Joachim Bruhn: Was bedeutet: „Nie wieder Deutschland“? – Eine ungehaltene Rede. 3. Oktober 1991; auf antideutsch.org, 3. Oktober 2019
  14. Patriotismus und Internationalismus nach der WM: Kein Schlußstrich per Schlusspfiff! Interview mit Peter Gingold, Bundessprecher der VVN-BdA. In: VVN-BDA, Antifa-Nachrichten Nr. 3, August 2006